Von Mode, Fleisch und Frieden

Von Mode, Fleisch und Frieden

Von Mode, Fleisch und Frieden. Was Quallen uns erzählen

Von Verena Meis

Obwohl Quallen weichhäutige, kaum widerständige Organismen sind, fast gänzlich aus Wasser bestehen und weder Herz noch Hirn besitzen, haftet ihnen mehr Brisanz an, als wir zunächst denken: Quallen bringen Kraftwerke zum Erliegen und Trawler zum Kentern. Sie gefährden Fischbestände und breiten sich rasant über alle Weltmeere aus. Als eines der ältesten Lebewesen trotzen sie heute dem Klimawandel und profitieren von der Erwärmung und Überfischung der Ozeane. Auch die mediale Berichterstattung dichtet den Quallen mehr als nur Gift und Gefahr an, sie militarisiert das Nesseltier gar: Dokumentationen tragen Titel wie Die Invasion der Quallen oder Quallen auf dem Vormarsch: Die unheimliche Großmacht. In Schlagzeilen finden sich Formulierungen wie: »Tödlicher Quallen-Horror«1  oder O-Töne wie: »Sie terrorisieren uns!«2  Meeresbiologische Termini wie ›stinging water‹, ›Cannonball Jellyfish‹ oder ›Floating Terror‹3 tragen dabei wenig zur gelatinösen Abrüstung bei. Und auch private Begegnungen mit Quallen am Strand oder beim Baden sind meist weniger erfreulich, sondern eher ekel- und/oder schmerzhaft. In ein äußerst interessantes und nicht weniger gefährliches Dreigestirn setzt auch der britische Schriftsteller Tom McCarthy die Nesseltiere: In Schreibmaschinen, Bomben, Quallen prophezeit McCarthy gleich im Vorwort den kommenden Glibber.4 Was klingt wie der Film The Blob mit Steve McQueen aus dem Jahr 1958, in dem eine gallertartige Substanz eine Kleinstadt angreift, meint hier alles andere als ein Science-Fiction-/Horror-Film-Szenario. Das Gelatinöse ist bei Tom McCarthy Bindeglied, Fuge, haftendes Moment und Netzwerk-Kreator. Es legt übersehene und weniger offensichtliche Verweisstrukturen und Denkzusammenhänge verstreuter Texte, Dokumente und Ideen dar.

Als Fuge dient mir folglich die Fiktion: Sich auf die Spur von fiktiven Quallen zu begeben, bedeutet, in eine gelatinöse Wunderkammer einzutreten, die von der Geburt der Quallenforschung um 1800 bis in unsere Gegenwart reicht. Die Narrative ragen dabei nicht selten in die Zukunft und kleben zugleich nah an den Diskursen der Gegenwart: Wie sprechen wir über Tiere? Wie wird ein Tier zum Modetrend oder wie wird unsere Mode vegan? Sind Aquarien heute noch tierethisch vertretbar? (Wie) Wollen wir altern? Wie gut oder schlecht ist Gen-Food oder auch: Wie gestalten wir ein fleischloses Morgen?

Fiktion 1

Minirock, Glitzertop, Zuckerwatte-Boa und Quallenarmband – ein Outfit, das den Tanzflächen des Technos in den 1990er-Jahren entsprungen sein könnte. Ich las davon in Margaret Atwoods SF-Roman Das Jahr der Flut von 2009 und stellte mir unter Letzterem ein Aquarium am Handgelenk vor: »Da waren sie, die winzig kleinen Quallen, die auf und zu gingen wie schwimmende Blüten. Sie sahen wahnsinnig perfekt aus.«5 In Margaret Atwoods Roman ist mit dem charmanten Accessoire, das an die Zeit des virtuellen Kükens namens Tamagotchi zurückdenken lässt, eine grausame Vorstellung verbunden: Lasse man die Quallen hungern, und das machten manche mit Absicht, heißt es, entfache sich ein sehenswerter Minikrieg am Handgelenk, bis nur noch eine Qualle übrigbliebe, die dann auch bald sterbe.6 Nur ein Gedankenexperiment oder jugendliche Tierquälerei?

Fiktion 2

In der französischen Fernsehserie Ad Vitam von 2018 begegnete mir die unsterbliche Qualle: So wie die mikroskopisch kleine Qualle namens ›Turritopsis  dohrnii‹  das  einzigartige  Potential  besitzt, sich selbst zu regenerieren, so sind es in der Fernsehserie die Menschen, die mittels eines Proteins des Nesseltiers die ersehnte Unsterblichkeit erlangen. Der Traum des ewigen Lebens ist in Ad Vitam jedoch ein Albtraum, der alternde Körper Faszinosum und illegales Happening: Der Alterungsprozess junger Körper wird im Aquarium eines Museums, dessen Ausstellung die Geschichte der menschlichen Regeneration erzählt, im Schnelldurchlauf für ein exklusives Publikum zur Schau gestellt. Die künstlich herbeigeführte Beschleunigung des Alterungsprozesses lässt den menschlichen Körper dabei in null Komma nichts zur schleimig schimmernden, nicht mehr lebensfähigen Molluske werden. Und überall der Werbeslogan gegen das Altern: »Ich brauche Weite.« Wohin soll die uns führen?

Fiktion 3

Nicht weniger Kurioses, die Quallen betreffend, las ich in Oskar Maria Grafs New-York-Roman Die Flucht ins Mittelmäßige aus dem Jahr 1957: Während eines Hungerdeliriums erträumt der mittellose Martin Ling einen Romanstoff, der ihm den alles ersehnten Durchbruch als Schriftsteller verschaffen soll. Das imaginierte Sujet: »Quallenschweine «7. Zufälliges Resultat einer Kreuzung aus Robbe und Schwein, das als knochenloses Fleischprodukt – einem Brotlaib oder einer abgeschnittenen Frauenbrust ähnelnd8 – den Weltmarkt erobert und, »frisch gefroren oder als Konserve«9 zum Volksnahrungsmittel auserkoren wird. Was als erfolgversprechende Idee für einen Roman im Roman beginnt, wird im Roman nie zu Papier gebracht und endet in der endgültigen Abkehr vom Schreiben. Und dennoch existieren die Quallenschweine: als Fiktion in der Fiktion.

Fiktion 4

Gegenwärtig versprechen uns die Sternenprediger und Astrosynth-Propheten der Band Future Jesus and The Electric Lucifer aus Köln/Düsseldorf gelatinöse Erholung/Erlösung aus dem All. In ihrem aktuellen Musikvideo zum Song Kosmo Cure10 auf dem gleichnamigen neuen Album leitet kein Stern, sondern ein galaktisch-oszillierendes Auge der Band den Weg in den Orbit, begleitet von einer leicht geänderten Erzählversion der Genesis. Das Klangrepertoire der intergalaktischen Drei – Florian Hoheisel, Richard Eisenach und Tamon Nüßner – besteht dabei aus tentakulären Sternenriffs und astrosynthetischen Drums und Beats aus dem Jenseits des Weltraums. Sie etablieren das Narrativ eines neuen planetarischen Ichs, das sich nicht als Mittelpunkt des Universums versteht: Kosmo Cure bringt Durchlässigkeit, setzt Irdisches und Außerirdisches in ein kosmotisches Gleichgewicht. »Auto Sequence Start«, und wir folgen einer Raumfähre nach »Tentacular City«, wo eine Armada an Ohren- und Kompassquallen das galaktische Firmament bevölkert. Dabei werden die Nesseltiere optisch zu gleichwertigen Kollaborateurinnen ernannt: Sie selbst, die Bandmitglieder und ihr musikalisches Instrumentarium sind es, die im Musikvideo nicht animiert sind. Es gilt: »Be ready for the Kosmo Cure.«

Fiktion 5 11

Von einem Heilsversprechen ist im Zusammenhang mit der Meerwalnuss, einer Art der Rippenquallen, weniger die Rede. Ganz im Gegenteil: Kannibalisch, räuberisch, invasiv sei sie. Eigentlich in subtropischen Gewässern heimisch, entdeckt man die Meerwalnuss heute auch in der Nord- und Ostsee, wo sie sich erfolgreich akklimatisierte und deshalb auch »[a]ls eine der hundert einflussreichsten invasiven Arten«12 gilt. Machen wir uns nichts vor, die Hauptursache für solch eine tierische Invasion ist der Transport durch Menschen.13 Die mit dem Attribut ›invasiv‹ konnotierte Aggression tut der Meerwalnuss und anderen anpassungsfähigen Arten Unrecht.

Um die Beziehung zwischen Mensch und Meerwalnuss geht es auch der österreichischen Autorin Marie Gamillscheg. Aufruhr der Meerestiere beginnt mit der Brisanz, mit der auch ich begann. Darin referiert die Meeresbiologin Luise, die Protagonistin des Romans: »Die Beziehung zwischen Mensch und Tier funktioniert einzig über Angst, [...]. Auch wenn Sie sich die Geschichte der Meerwalnuss anschauen, ist es zunächst einmal eine Geschichte der Angst, so wie der Mensch sie erzählt, [...]. Es stimmt schon, dass nicht das Artensterben, sondern jene Arten, die sich explosiv vermehren, die größte Gefahr für unsere Ozeane darstellen, [...]. Aber wenn wir die Ausbreitung der Meerwalnuss nur als Problem sehen, das es zu bekämpfen gilt, dann vergessen wir, dass es der Mensch selbst ist, der seit Beginn des internationalen Warenhandels die Meerwalnuss in den Ballastwassertanks seiner Schiffe in neue Gewässer bringt.«14 Und dabei ist die Heilung so nah, mittels eines Perspektivwechsels, für den Luise plädiert: »[W]enn wir hinter die Angst schauen, [...], wenn wir die Meerwalnuss nicht als invasiv, auch nicht als räuberisch oder kriegerisch bezeichnen, dann könnten wir von ihr lernen, wie man sich selbst den schlimmsten Lebensbedingungen anpassen, in ihnen sogar nicht nur überleben, sondern gut leben kann.«15 Gut leben mit Quallen, ein gut gemeinter Rat für die friedliche Zukunft aller Arten miteinander.